Aggregatzustände der Stille: Wenn es auf Bali regnet und in Mürren schneit.

Auf Bali beginnt die Regenzeit. In Mürren beginnt der Winter. Dort fällt Wasser in Tropfen, hier in Flocken. Beides dasselbe Element, in unterschiedlichen Aggregatzuständen, verschiedenen Temperaturen, verschiedenen Geschichten. Regen und Schnee sind keine Gegensätze, sondern zwei Weisen, wie die Welt sich verwandelt.

Bali-Mürren. Fotografie: Daniel Frei

Die Erde kennt keine Gegensätze, aber Übergänge. Während in den Tropen der Himmel aufbricht, um die Insel zu tränken, zieht sich in den Alpen die Feuchtigkeit zusammen, kristallisiert, legt sich still auf Dächer und Tannen. Regen fällt mit Geräusch, Schnee mit Schweigen. Das eine weckt, das andere deckt zu. Und beide erzählen dasselbe: Es ist Zeit für Wandel. Der Mensch erlebt Jahreszeiten als Abfolge, doch sie sind zugleich. Irgendwo auf der Welt regnet es immer, schneit es immer, trocknet es immer aus. Unser Bewusstsein trennt, was das Wasser längst verbindet.

Wasser fliesst, verdunstet, gefriert, fällt zurück. Es widersteht nicht, sondern wandelt sich. Kein anderes Element lehrt so viel über Anpassung, Formlosigkeit, Akzeptanz. Es sucht nie den kürzesten Weg, sondern den möglichen. Es fragt nicht, woher es kommt oder wohin es geht. Es folgt der Schwerkraft, der Sonne, dem Wind. Und kehrt am Ende immer zu sich selbst zurück.

So betrachtet, ist Wasser die stille Schule des Lebens. Es kennt keinen Stillstand, keine endgültige Form. Es löst auf, was starr ist, und formt, was offen bleibt. In dieser Bewegung liegt Weisheit: Stabilität ist nur eine Illusion. Dauer entsteht durch Zirkulation.

Das Klima prägt nicht nur Landschaften, auch Bewusstseinsformen. Regenzeit: Überfluss, Wachstum, Geruch nach Erde. Winterzeit: Verdichtung, Rückzug, das Erleben von Grenzen. Beide Zyklen erfüllen denselben Zweck: Erneuerung. Wo es zu lange trocken bleibt, brennt die Erde aus. Wo es zu lange gefroren bleibt, stirbt sie ab. Der Rhythmus zwischen Regen und Schnee, Ausdehnung und Ruhe, Überfluss und Askese, ist der natürliche Pulsschlag des Lebens. Vielleicht wird der Mensch krank, wenn er diesen Rhythmus verliert.

In vielen Kulturen ist Wasser das heiligste aller Elemente. Die spirituelle Dimension des Wassers. Auf Bali wird es gesegnet, gesammelt, gereicht. In den Alpen wird es gestaut, kanalisiert, gespeichert. Dort ein Ritual der Hingabe, hier eines der Kontrolle. Doch das Element selbst bleibt unbeeindruckt. Es fliesst durch beide Systeme hindurch und trägt Erinnerung: von Wolken, Meeren, Körpern, Zeiten. Ist die Heiligkeit nichts anderes als die Anerkennung dieser Verbindung, das Wissen, dass kein Tropfen je verloren geht?

Das Wasser, das einst in den Reisterrassen Balis floss, liegt nun als Schnee auf den Hängen des Schwarzmönchs. Die Zeit trennt, das Element verbindet.

Auch der Mensch kennt seine Wasserformen. Der Mensch und seine Aggregatzustände. Er kann gefroren sein, starr, zurückgezogen, unberührbar. Er kann flüssig sein, beweglich, offen, verbunden. Er kann verdunsten, sich verflüchtigen, entziehen, in den Himmel aufsteigen. Und manchmal kehrt er als Regen zurück. Gereinigt, verändert, bereit, neu zu fliessen. Diese inneren Zustände wechseln mit den Lebenszeiten, mit den Erfahrungen, mit der Temperatur der Welt um uns. Ist Reife nichts anderes, als das bewusste Erkennen dieser Wechsel, und das Vertrauen, dass sie notwendig sind?

Etwa siebzig Prozent des menschlichen Körpers bestehen aus Wasser. Dasselbe Verhältnis gilt für den Planeten. Wasser im Körper, Wasser in der Welt. Wir sind keine Bewohner der Erde, sondern ein Teil ihres Ozeans, in menschlicher Form. Wenn das Wasser verdunstet, verdunstet ein Teil von uns. Wenn es regnet, kehren wir zurück. Das Wasser, das wir trinken, war vielleicht Teil eines Gletschers, eines Sturms, eines Körpers, einer Wolke. Es trägt Erinnerung, nicht als Information, sondern als Schwingung. Jede Zelle wiederholt, was der Planet vormacht: Kreislauf, nicht Fortschritt.

Der Schnee fällt, um die Welt stillzulegen. Der Regen fällt, um sie zu erwecken. Das Schweigen des Schnees, das Lied des Regens. Zwischen beidem liegt kein Widerspruch, sondern eine Symphonie. Wer zuhört, erkennt: Es ist dieselbe Melodie, nur in unterschiedlichen Tonarten. Die Erde braucht beides: den Klang und die Stille, das Loslassen und das Sammeln. Der Mensch ebenso.

In der Tropenwärme wie im alpinen Frost spricht das Wasser dieselbe Sprache: die der Bewegung. Sie sagt uns, dass Leben kein Zustand ist, sondern ein Umlauf. Liegt die Weisheit des Wassers darin, dass es sich nie verteidigt?

Es bleibt, indem es vergeht. Es verändert, indem es sich hingibt. Es ist die sanfteste Form von Stärke und die dauerhafteste. Wasser kennt keine Grenzen. Nur Zustände.

Weiter
Weiter

Heimweh.