Migration.
Mürren lebt von Migrationen. Von jenen, die täglich durchs Dorf ziehen, und jenen, die nur einmal im Jahr erscheinen. Von Tieren, Gästen, Zweitwohnenden, Saisonierenden und den Einheimischen, die das Ganze zusammenhalten. Hier oben entsteht aus Kommen und Gehen kein Verlust, sondern ein Rhythmus, der Mürren zu dem macht, was es ist.
Mürren kennt keine Eile. Und doch ist alles hier in Bewegung. Das Dorf atmet in Wellen, fast wie ein Meer ohne Wasser, nur mit Fels, Wald und Höhe. Ein Anstieg, ein Abstieg, ein Hoch und ein Runter, und wieder von vorn. Die Wege sprechen davon. Sie tragen Spuren von Stiefeln, Pfoten, Skiern, Schneeschuhen, Rädern, Kinderwagen und Einkaufstaschen. Ein Inventar der Präsenz, eine Topografie des Vorübergehens. Wer kommt, wer geht? Und wer bleibt? Oder anders: Mürren, ein Kontinuum aus Kommen und Gehen.
Die Tiere kennen die Saison besser als wir. Die Gämsen ziehen über Nacht, die Vögel kommen im Juni und gehen im September, die Rehe erscheinen, wenn man sie nicht erwartet, und verschwinden, bevor man sicher war, sie wirklich gesehen zu haben. Und über den Fuchs sprechen wir gar nicht erst. Seine Wege sind älter als unsere. Ihre Migrationen sind leiser, präziser, unbeeindruckt von Preisen und Bookingfenstern. Sie sind die wahren Stammgäste. Und sie sind die ersten, die merken, wenn sich etwas verschiebt.
Dann die anderen Wellen. Die der Zweitwohnenden. Sie tauchen auf wie Sommersterne: plötzlich da, strahlend, kurz, warm, und dann schon wieder fort. Sie bringen Licht in die Gassen, Wein auf die Terrassen, Leben in die Stuben. Sie gehören dazu, obwohl sie nicht bleiben. Sie sind die schmale Linie zwischen Heimat und Projekt. Manchmal kommen sie jedes Jahr, manchmal verschwinden sie für zwei Saisons, manchmal kommen neue. Migration auch hier. Aber sanft.
Die Gäste sind anders. Sie kommen aus Sonne und Nebel, aus Städten, aus Sehnsüchten. Sie reisen ein paar Stunden, für zwei Nächte, fünf Tage, drei Wochen, manchmal nur für ein Foto. Wenige bleiben lang genug, um den Rhythmus zu spüren. Die meisten bleiben zu kurz, um zu verstehen, wie tief Mürren wirkt, wenn man still genug wird, um es zu merken. Auch sie migratorisch: mal mit Schnee im Blick, mal mit Blumenwiesen, mal mit Wolkenmeer. Mürren legt sich ihnen in die Augen, und dann gehen sie wieder. Oft verwandelt, manchmal nur erfrischt, manchmal ohne zu wissen, weshalb.
Und dann gibt es jene, die zwischen den Welten arbeiten. Die Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter, die kommen, wenn andere Ferien machen, und gehen, wenn andere bleiben. Sie tragen Teller, Lasten, Mürren durch die Monate. Sie schlafen in Zimmern über Küchen, in Unterkünften hinter Hotels, in Wohnungen, die sie nur für die Saison haben. Sie kommen aus Portugal, Argentinien, Ungarn, Deutschland, Nepal, Italien, aus Zürich, aus Bern. Viele bleiben nur eine Saison. Manche fünf. Einige ein ganzes Leben, ohne je ganz da zu sein und doch unverzichtbar. Ihre Migration ist taktgebunden, präzise wie ein Fahrplan. Sie sind die unsichtbare Infrastruktur, ohne die der Winter anders wäre und der Sommer weniger Sommer.
Und dann gibt es die anderen. Die, die bleiben. Die Einheimischen. Die Mürrnerinnen und Mürrner, die hoch oben leben, im Wind, im Licht, im Nebel. Das Fixum. Das Fundament. Der Grundton. Bleiben, weil sie es nicht anders können, weil sie es genau so wollen. Für sie ist Mürren kein Aufenthalt. Es ist Richtung. Herkunft. Entscheidung. Heimat. Sie bleiben in den Leerzeiten, in den Zwischenräumen, wenn die Läden schliessen und der Schnee fällt, ohne Publikum. Sie bleiben im Sommer, wenn alle anderen Ferien haben. Sie bleiben, wenn die Bahn stillsteht. Sie bleiben, wenn es zu still wird, und auch, wenn es zu laut wird.
Mürren trägt all diese Migrationen mit stoischer Eleganz. Das Dorf nimmt an, was kommt. Es lässt gehen, was gehen muss. Es versucht nicht, festzuhalten. Es kennt seine eigene Zeit. Es weiss, dass Kontinuität nicht Stillstand bedeutet, sondern Rhythmus. Mürren lebt von der Mischung aus Bewegung und Beständigkeit. Von den Menschen, die kurz bleiben. Von den Tieren, die länger bleiben. Von den Saisonkräften, die das Ganze in Schwung halten. Und von den wenigen, die es zusammenhalten, indem sie einfach da sind. Sichtbar oder leise, aber immer verlässlich.

