Mürren
Mon Amour
Der Blog zwischen Höhenluft,
Herz und Haltung.
Mürren Mon Amour ist mehr als ein Blog. Es ist eine Liebeserklärung. An den Ort. An das Leben in der Höhe. An Gedanken mit Tiefgang. Hier treffen Höhenluft und Haltung aufeinander, Herz und Horizont. Zwischen Bergnebel und Klarheit entstehen Texte über das, was bewegt. Innen wie aussen. Über Mürren als Idee, als Zwischenort, als Möglichkeit. Für alle, die mehr suchen als Aussicht: Einsicht.
Grüne Weihnachten.
Kein Schnee. Stattdessen Gras, Moos, nasse Wege und eine Landschaft, die sich weigert, unsere inneren Postkarten zu bestätigen. Aber grüne Weihnachten in Mürren sind kein Mangel. Sie sind eine Zumutung. Und ein unerwartetes Geschenk.
Kein Schnee. Stattdessen Gras, Moos, nasse Wege und eine Landschaft, die sich weigert, unsere inneren Postkarten zu bestätigen. Aber grüne Weihnachten in Mürren sind kein Mangel. Sie sind eine Zumutung. Und ein unerwartetes Geschenk.
Oft liegt der Schnee schon Wochen vor Weihnachten. Er kommt leise, bleibt liegen, deckt ab, ordnet neu. Er macht die Welt langsamer und uns ein wenig kindlicher. Und manchmal nicht, öfter als auch schon. Grün. Offen. Unverschlossen. Die Hänge zeigen sich, als hätten sie beschlossen, ehrlich zu sein. Kein Weiss dazwischen. Keine Kulisse. Kein Vorhang.
Grüne Weihnachten fühlen sich zunächst falsch an. Nicht, weil sie es sind, sondern weil unsere Bilder andere sind. Weihnachten ist bei uns ein visuelles Fest, gar ein multisensorisches. Kerzen und Kälte. Dunkelheit und Glühweingeruch. Wärme und Schnee. Und der ist dabei nicht einfach Wetter. Er ist Bedeutung. Er verspricht Ruhe. Er verspricht Neubeginn. Er verspricht, dass alles, was vorher war, für einen Moment stillgestellt wird.
Fehlt der Schnee, fehlt nicht nur das Weiss. Es fehlt mehr. Das Zudecken. Das gnädige Verbergen. Die weisse Hand, die sagt: Später. Jetzt nicht. Jetzt Ruhe.
Grün hingegen ist unverschämt präsent. Es zeigt alles. Die braunen Stellen. Die Steine. Die Wege. Die Arbeitsspuren des Sommers. Grün lässt nichts verschwinden. Grün konfrontiert. Grün ist Alltag. Und genau darin liegt seine Irritation an Weihnachten.
Denn Weihnachten ist das Fest der Fantasie. Nicht der Realität. Wir feiern weniger das, was ist, als das, was sein könnte, was wir uns erwünschten und erhofften. Oder gewesen sein soll. Schnee hilft dabei. Er macht, nicht nur aber auch, aus Mürren ein Bild. Aus einem Dorf ein Versprechen. Aus einer Landschaft eine Bühne.
Ohne Schnee fällt diese Bühne weg. Übrig bleibt das Dorf. Die Wege. Die Häuser. Die Menschen. Mürren ohne Schnee ist kein Märchen. Es ist ein Ort. Und genau das ist der Punkt: Schnee zaubert. Er verlangsamt Schritte. Dämpft Geräusche. Verbindet Unverbundenes. Ein Zaun wird Linie, ein Hang Fläche, ein Chaos Ruhe. Schnee ist der grosse Editor der Landschaft. Er streicht, vereinfacht, reduziert. Und wir lieben ihn dafür.
Aber Reduktion ist nicht Wahrheit. Sie ist eine Form von Gnade. Grün ist weniger gnädig. Grün ist ehrlich. Es zeigt die Übergänge. Die Unentschiedenheit. Den Winter, der keiner sein will. Den Herbst, der nicht gehen mag. Den Frühling, der noch keine Verantwortung übernehmen möchte.
Grüne Weihnachten erzählen von einer Zeit, in der Sicherheiten rarer werden. In der das Wetter nicht mehr zuverlässig liefert, was wir innerlich bestellt haben. Scarcity of Snow klingt nach Statistik. Nach Diagrammen. Nach Klimabericht. Aber emotional ist es etwas anderes. Es ist der Moment, in dem ein inneres Bild nicht eintritt.
Und genau dort beginnt Philosophie.
Was tun wir, wenn das Aussen nicht mehr mit dem Innen übereinstimmt? Wenn unsere Erwartungen ins Leere greifen? Wenn das Bild fehlt, an dem wir uns festhalten wollten?
Wir können klagen. Oder wir können hinschauen.
Grün bedeutet Leben. Wachstum. Fortsetzung. Es ist die Farbe der Zeit, die nicht pausiert. Weihnachten ohne Schnee sagt uns vielleicht genau das. Dass nichts anhält. Dass selbst Rituale nicht garantiert sind. Dass Magie nicht automatisch geliefert wird.
Und doch ist sie da. Nur anders.
Die Magie liegt im Nichtverdecken. Im Sehen dessen, was sonst unter Schnee verschwindet. In der Erkenntnis, dass Zauber nicht nur aus Weiss besteht. Sondern aus Aufmerksamkeit. Aus dem bewussten Wahrnehmen dessen, was ist. Ist der Schnee immer auch eine Ausrede gewesen? Eine schöne. Eine poetische. Aber eine Ausrede. Er hat uns erlaubt, über die Realität hinwegzusehen. Grün erlaubt das nicht. Grün verlangt Beziehung.
Grüne Weihnachten sind ein Spiegel. Sie zeigen uns, wie sehr wir an Bildern hängen. Und wie wenig wir dem Moment zutrauen, ohne Kulisse zu tragen. In Mürren, wo der Schnee sonst selbstverständlich ist, wirkt sein Ausbleiben besonders laut. Und vielleicht lehrt uns gerade dieser Mangel etwas über Fülle. Über die Fähigkeit, auch im Offenen Geborgenheit zu finden. Auch im Unverdeckten Wärme.
Schnee kommt und geht. Erwartungen auch. Was bleibt, ist die Landschaft. Und wir darin. Ohne Weiss. Aber nicht ohne Sinn.
Grüne Weihnachten sind kein Verlust. Sie sind eine Einladung. Hinzuschauen. Loszulassen. Und zu entdecken, dass der Zauber nicht verschwindet, wenn nichts zugedeckt ist, sondern erst dann beginnt.
Hôrs-Saison.
Mürren atmet anders in diesen Tagen. Langsamer. Tiefer. Weicher. Die Hôrs-Saison liegt über dem Dorf wie eine zweite Schneeschicht. Sie dämpft die Geräusche, verlängert die Schritte, öffnet Räume, die in der Hochsaison immer schon belegt sind, bevor man überhaupt weiss, dass man sie gebraucht hätte.
Mürren atmet anders in diesen Tagen. Langsamer. Tiefer. Weicher. Die Hôrs-Saison liegt über dem Dorf wie eine zweite Schneeschicht. Sie dämpft die Geräusche, verlängert die Schritte, öffnet Räume, die in der Hochsaison immer schon belegt sind, bevor man überhaupt weiss, dass man sie gebraucht hätte.
Hôrs-Saison. Gelesen von Daniel Frei.
Anfang Dezember und Mürren ist leer. Leer im schönsten Sinn. Keine Schlange vor den Gondeln. Keine Touristen, die mit ihren Brettern mal unkontrollierter, mal weniger durch die Gassen klirren. Die meisten Hotels schlafen. Die Restaurants dösen hinter heruntergelassenen Rollläden. Die wenigen Lichter, die brennen, gehören den Menschen, die hier wirklich leben. Die Menschen, die den Winter nicht konsumieren, sondern mit ihm zusammenwohnen.
Diese Zeit trägt viele Namen. Nebensaison, Zwischensaison, Saddle Season, Hôrs-Saison. Wie ein Kleidungsstück, das man je nach Stimmung anders nennt. Doch das Wesen bleibt dasselbe. Ein Zwischenraum. Ein Atemzug zwischen den grossen Atemzügen. Ein Moment, in dem man die Dinge klarer sieht, weil sie nicht von Stimmen übertönt werden. Ein Moment, in dem das Dorf sich selbst zuhört. Mürren ist jetzt eine Bühne ohne Publikum. Und gerade deshalb zeigt es sich am ehrlichsten.
Der Schnee liegt still. Das Wetter spielt seine eigenen Varianten. Mal Sonne, mal Nebel, mal eine mystische Schicht dazwischen, die die Konturen zwischen Schwarzmönch und Dachfirst verwischt. Mal blitzt der Eiger auf wie eine Verabredung, mal verschwindet er wortlos im Weiss, als hätte er für heute genug gezeigt.
Es ist eine Stille, die gefüllt ist. Gefüllt mit Vorbereitungen, mit Gesprächen hinter geschlossenen Türen. Viele Angestellte sind irgendwo im Tal, in der Weite, und tanken Energie. Die Hoteliers sitzen über Listen und Plänen. Die Bähnler und Pistenleute schärfen Kanten und Pisten, prüfen Kabel und testen Motoren. Alle wissen, was kommt. Dass der Bär tanzen wird und die Tächi steppen. Dass Weihnachten und Neujahr Mürren in diesen vibrierenden Ausnahmezustand versetzen, in dem das Dorf kurz zur Kleinstadt wird, zur Arena, zum Zirkus.
Aber jetzt noch nicht. Jetzt gehört Mürren sich selbst. Und denen, die bleiben. Denen, die durch die leeren Strassen gehen und zufällig Nachbarn treffen, die man den ganzen Sommer über nur im Vorbeigrüssen erwischt hat. Denen, die im Dorfladen ein paar Wörter mehr wechseln als sonst. Denen, die morgens den Nebel über dem Lauterbrunnental beobachten und das Gefühl haben, irgendwo zwischen Himmel und Schnee zu wohnen.
Die Hôrs-Saison ist Mürrens schönste Jahreszeit. Nicht weil mehr, sondern weil weniger passiert. Weil das Weniger plötzlich genug ist. Genug, um die Schönheit dieses Dorfes wieder zu spüren. Genug, um die eigenen Gedanken ordnen zu können. Genug, um sich in den Bergen zuhause zu fühlen und nicht im Tourismus.
Die zwei Leben von Mürren. Das laute, begehrte, überfüllte. Und dieses andere, dieses stille, intime, fast schüchterne, sicher zurückhaltende. Das Leben, das sich zeigt, wenn fast niemand hinschaut. Ein Ort im Übergang. Ein Versprechen, das sich Zeit lässt.
Aggregatzustände der Stille: Wenn es auf Bali regnet und in Mürren schneit.
Auf Bali beginnt die Regenzeit. In Mürren beginnt der Winter. Dort fällt Wasser in Tropfen, hier in Flocken. Beides dasselbe Element, in unterschiedlichen Aggregatzuständen, verschiedenen Temperaturen, verschiedenen Geschichten. Regen und Schnee sind keine Gegensätze, sondern zwei Weisen, wie die Welt sich verwandelt.
Auf Bali beginnt die Regenzeit. In Mürren beginnt der Winter. Dort fällt Wasser in Tropfen, hier in Flocken. Beides dasselbe Element, in unterschiedlichen Aggregatzuständen, verschiedenen Temperaturen, verschiedenen Geschichten. Regen und Schnee sind keine Gegensätze, sondern zwei Weisen, wie die Welt sich verwandelt.
Die Erde kennt keine Gegensätze, aber Übergänge. Während in den Tropen der Himmel aufbricht, um die Insel zu tränken, zieht sich in den Alpen die Feuchtigkeit zusammen, kristallisiert, legt sich still auf Dächer und Tannen. Regen fällt mit Geräusch, Schnee mit Schweigen. Das eine weckt, das andere deckt zu. Und beide erzählen dasselbe: Es ist Zeit für Wandel. Der Mensch erlebt Jahreszeiten als Abfolge, doch sie sind zugleich. Irgendwo auf der Welt regnet es immer, schneit es immer, trocknet es immer aus. Unser Bewusstsein trennt, was das Wasser längst verbindet.
Wasser fliesst, verdunstet, gefriert, fällt zurück. Es widersteht nicht, sondern wandelt sich. Kein anderes Element lehrt so viel über Anpassung, Formlosigkeit, Akzeptanz. Es sucht nie den kürzesten Weg, sondern den möglichen. Es fragt nicht, woher es kommt oder wohin es geht. Es folgt der Schwerkraft, der Sonne, dem Wind. Und kehrt am Ende immer zu sich selbst zurück.
So betrachtet, ist Wasser die stille Schule des Lebens. Es kennt keinen Stillstand, keine endgültige Form. Es löst auf, was starr ist, und formt, was offen bleibt. In dieser Bewegung liegt Weisheit: Stabilität ist nur eine Illusion. Dauer entsteht durch Zirkulation.
Das Klima prägt nicht nur Landschaften, auch Bewusstseinsformen. Regenzeit: Überfluss, Wachstum, Geruch nach Erde. Winterzeit: Verdichtung, Rückzug, das Erleben von Grenzen. Beide Zyklen erfüllen denselben Zweck: Erneuerung. Wo es zu lange trocken bleibt, brennt die Erde aus. Wo es zu lange gefroren bleibt, stirbt sie ab. Der Rhythmus zwischen Regen und Schnee, Ausdehnung und Ruhe, Überfluss und Askese, ist der natürliche Pulsschlag des Lebens. Vielleicht wird der Mensch krank, wenn er diesen Rhythmus verliert.
In vielen Kulturen ist Wasser das heiligste aller Elemente. Die spirituelle Dimension des Wassers. Auf Bali wird es gesegnet, gesammelt, gereicht. In den Alpen wird es gestaut, kanalisiert, gespeichert. Dort ein Ritual der Hingabe, hier eines der Kontrolle. Doch das Element selbst bleibt unbeeindruckt. Es fliesst durch beide Systeme hindurch und trägt Erinnerung: von Wolken, Meeren, Körpern, Zeiten. Ist die Heiligkeit nichts anderes als die Anerkennung dieser Verbindung, das Wissen, dass kein Tropfen je verloren geht?
Das Wasser, das einst in den Reisterrassen Balis floss, liegt nun als Schnee auf den Hängen des Schwarzmönchs. Die Zeit trennt, das Element verbindet.
Auch der Mensch kennt seine Wasserformen. Der Mensch und seine Aggregatzustände. Er kann gefroren sein, starr, zurückgezogen, unberührbar. Er kann flüssig sein, beweglich, offen, verbunden. Er kann verdunsten, sich verflüchtigen, entziehen, in den Himmel aufsteigen. Und manchmal kehrt er als Regen zurück. Gereinigt, verändert, bereit, neu zu fliessen. Diese inneren Zustände wechseln mit den Lebenszeiten, mit den Erfahrungen, mit der Temperatur der Welt um uns. Ist Reife nichts anderes, als das bewusste Erkennen dieser Wechsel, und das Vertrauen, dass sie notwendig sind?
Etwa siebzig Prozent des menschlichen Körpers bestehen aus Wasser. Dasselbe Verhältnis gilt für den Planeten. Wasser im Körper, Wasser in der Welt. Wir sind keine Bewohner der Erde, sondern ein Teil ihres Ozeans, in menschlicher Form. Wenn das Wasser verdunstet, verdunstet ein Teil von uns. Wenn es regnet, kehren wir zurück. Das Wasser, das wir trinken, war vielleicht Teil eines Gletschers, eines Sturms, eines Körpers, einer Wolke. Es trägt Erinnerung, nicht als Information, sondern als Schwingung. Jede Zelle wiederholt, was der Planet vormacht: Kreislauf, nicht Fortschritt.
Der Schnee fällt, um die Welt stillzulegen. Der Regen fällt, um sie zu erwecken. Das Schweigen des Schnees, das Lied des Regens. Zwischen beidem liegt kein Widerspruch, sondern eine Symphonie. Wer zuhört, erkennt: Es ist dieselbe Melodie, nur in unterschiedlichen Tonarten. Die Erde braucht beides: den Klang und die Stille, das Loslassen und das Sammeln. Der Mensch ebenso.
In der Tropenwärme wie im alpinen Frost spricht das Wasser dieselbe Sprache: die der Bewegung. Sie sagt uns, dass Leben kein Zustand ist, sondern ein Umlauf. Liegt die Weisheit des Wassers darin, dass es sich nie verteidigt?
Es bleibt, indem es vergeht. Es verändert, indem es sich hingibt. Es ist die sanfteste Form von Stärke und die dauerhafteste. Wasser kennt keine Grenzen. Nur Zustände.

