Der Eiger gebärt die Wolken.

Manchmal wirkt es, als hätte der Berg beschlossen, selbst Himmel zu spielen. Dann hebt er an zu atmen, zu pressen, zu schaffen. Und plötzlich ist da etwas Neues in der Luft.

Der Eiger ist an diesen Tagen kein Berg. Er ist Hebamme, Gebärender, Mythentier. Er steht zwar da, scheinbar unbeweglich wie immer, und tut doch etwas zutiefst Unalpines: Er produziert Veränderung. Wolken steigen an und aus ihm hoch, als hätten sie dort ihren Ursprung, als kämen sie nicht von irgendwoher, sondern genau von hier. Aus Fels. Aus Geduld. Aus Jahrmillionen Stille.

Man sitzt in Mürren, schaut hinüber und denkt für einen Moment, das mit der Physik sei überbewertet. Warme Luft, Auftrieb, Kondensation. Ja, ja. Sicher. Aber das erklärt nicht, warum diese Wolken so aussehen, als wären sie eben erst erfunden worden. Frisch. Noch etwas unbeholfen. Als müssten sie selbst kurz schauen, was sie jetzt eigentlich sind.

Der Eiger zieht sie hoch wie Gedanken. Erst zart, dann entschlossener. Kleine weisse Ideen, die an der Wand entlangkriechen, hängen bleiben, sich sammeln, mutiger werden. Irgendwann kippt es. Dann schiebt der Berg richtig nach. Und man hat das Gefühl, er sage: So. Jetzt reicht’s. Jetzt zeige ich euch, wie Wetter gemacht wird.

Es ist ein launisches Schauspiel. Nicht dramatisch, nicht bedrohlich. Eher stolz. Und ein bisschen eitel vielleicht. Der Eiger weiss, dass er das kann. Er weiss auch, dass wir zuschauen. Und er lässt sich Zeit. Er ist keiner, der schnell liefert. Er ist einer, der Wirkung versteht.

Die Wolken, die er gebärt, sind keine dekorativen Postkartenwolken. Sie sind nicht dafür da, hübsch zu sein. Sie haben Volumen. Gewicht. Sie kommen mit der Selbstverständlichkeit von etwas, das weiss, dass es bleiben darf, zumindest eine Weile. Und dann ziehen sie weiter, als wäre nichts gewesen. Kein Abschied. Kein Applaus. Der Berg bleibt zurück, wieder ganz Berg, als hätte er nichts getan.

Es ist das das Raffinierte daran. Dass etwas so Grosses, so Offensichtliches passiert und niemand ein Drama daraus macht. Kein Tamtam. Kein Pathos. Nur ein stilles Gebären am frühen oder späten Tag, während unten jemand seinen Kaffee trinkt und kurz innehält.

Ich mag diese Momente, weil sie mich daran erinnern, dass Schöpfung nicht laut sein muss. Dass Kraft nicht brüllen muss. Dass selbst ein Berg Dinge hervorbringen kann, die weich sind, flüchtig, nicht festzuhalten. Und dass darin eine gewisse alpine Eleganz liegt.

Der Eiger gebärt die Wolken. Und wir dürfen zuschauen. Mehr braucht es auch nicht.

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Grüne Weihnachten.